Rechenbücher erzählen Kulturgeschichte

 Magazin

Aufgaben in Rechenbüchern des 19. Jahrhunderts
von Horst Schiffler

Aufgaben im Rechen- und Mathematikunterricht lassen sich didaktisch und kulturgeschichtlich analysieren. An einer Persiflage, die sich über die Entwicklung der Schule in den letzten 50 Jahren lustig macht, lässt sich das veranschaulichen.

Aufgabe aus einem Volksschulrechenbuch von 1960:

Ein Bauer verkauft einen Sack Kartoffeln für 40 DM. Die Erzeugerkosten betragen 30 DM. Wie hoch ist der Gewinn?

In einem Realschulrechenbuch von 1973 lesen wir:

Ein Bauer verkauft einen Sack Kartoffeln für 40 DM. Die Erzeugerkosten betragen 4/5 des Erlöses. Rechne! (Taschenrechner nicht erlaubt).

Didaktisch finden wir einen höheren Anspruch durch den Bruch, kulturgeschichtlich ist der Hinweis auf den Taschenrechner von Bedeutung.

In der Neuauflage von 1983 lautet die Aufgabe:

Ein/e Bauer/Bäuerin verkauft an einen Kunden/in einen Sack Kartoffeln. Die Erzeuger/innen-Kosten betragen 4/5 des Erlöses. Rechne!

Hier fällt sofort der kulturgeschichtliche Kontext der Emanzipationsbewegung ins Auge.

1990 finden wir im Mathematikbuch der höheren Schule folgende Version:

Ein Agrarökonom verkauft eine Menge Solanum tuberosum für eine Geldmenge G. G hat die Mächtigkeit 40. Die Menge der Herstellungskosten H ist um 10 Elemente weniger mächtig als die Menge G. Zeichnen Sie ein Bild der Menge H als Teilmenge G.

Wissenschaftsorientierung und Mengenlehre bestimmen die Didaktik.

Ein Seitenhieb auf die Waldorfschule klingt so:

Ein Bauer verkauft einen Sack Kartoffeln für 40 M. Sein Gewinn beträgt 10 M. Male einen Sack Kartoffeln und singe ein Lied dazu.

Und die Aufgabenkarikatur auf die Gesamtschule lautet:

Ein Bauer verkauft einen Sack Kartoffeln für 40 €. Die Erzeugerkosten betragen 30 €, der Gewinn beträgt 10 €. Unterstreiche das Wort Kartoffeln und diskutiere mit deinen Mitschülern über den Sachverhalt.

Jede dieser karikaturistischen Aufgaben ruft sofort Erinnerungen wach, die über die unterrichtliche Intention hinaus gesellschaftliche Diskussionen beinhalten.

Am Ende des 18. Jahrhunderts hatten Rechnen und Mathematik im Schulunterricht noch einen untergeordneten Rang, am Ende des 19. Jahrhunderts war daraus ein Hauptfach geworden. Um 1800 findet man in Rechenbüchern noch überwiegend Aufgaben zur Übung reiner Rechenprozesse, schon 30 Jahre später stellt man in Volksschulrechenbüchern und in solchen für die Unterstufe der Gymnasien einen beachtlichen Anteil von Aufgaben zu Umwelt und täglichem Leben fest. In der Mitte des 19. Jahrhunderts finden sich sogar eigenständige Sammlungen mit sogenannten angewandten Aufgaben. An exemplarischen Beispielen soll verdeutlicht werden, wie sie uns die deutsche Welt von vor 150 Jahren veranschaulichen, aber auch, welche Schwierigkeiten wir heute haben können, sie zu verstehen, weil uns die Kultur, auf die sie sich beziehen, so fremd geworden ist.

Schon die Tatsache, dass kein Rechenbuch ohne Währungs-, Maß- und Gewichtstabellen ausgekommen ist, die vor 1872 sehr umfangreich waren, verweist auf ein kompliziertes Problem und ein breites Feld für Rechenübungen. In einem Rechenbuch aus dieser Umstellungszeit auf das metrische und dezimale System umfassen diese Tabellen 27 Seiten. Es ist uns heute kaum noch bewusst, dass jeder deutsche Teilstaat eigene Bezeichnungen, Einheiten und Umrechnungsfaktoren verwendete. Bei den Hohlmaßen, beispielsweise, unterschied man zwischen Fruchtmaß und Flüssigkeitsmaß. In Bremen gab es für letzteres

Tonne, Ohm, Stübchen und Quart (1Ohm = 45 Stübchen = 180Quart). In Hamburg hatte man Fuder und Kanne (1Fuder = 480 Kannen; 1 Kanne entspricht etwa 1,8l).

In den altpreußischen Provinzen galten 1Oschoft = 1,5 Ohm 1Ohm = 3 Eimer 1 Eimer = 6 Anker; der entsprach 1,14l.

Fruchtmaße für Getreide waren in Hamburg 1 Last = 60 Fass = 120 Himten; 1 Himten entsprach 26,3l.

In Preußen maß man Getreide mit Wispel, Scheffel und Metzen. Innerhalb Preußens unterschieden sich die einzelnen Provinzen aufgrund unterschiedlicher Traditionen. In Frankfurt galten andere Bezeichnungen und Werte als in den preußischen Teilen Hannover, Hohenzollern, Kur-Hessen, Lauenburg oder Nassau.

So begegnen einem in Rechenbüchern vor 1872 für Flüssigkeiten auch noch Bezeichnungen wie Schenkmaß, Quartier, Nössel, dabei unterschied man in Schwarzburg-Sondershausen noch zwischen Branntwein-Nössel und Bier-Nössel.

Das gleiche Bild der Vielfalt bietet sich auf dem Gebiet der Gewichte, wie auch der Längen- und Flächenmaße, selbst beim metrischen System tauchen Einheiten auf, die uns heute fremd sind:

Für 6 Thaler fährt man eine gewisse Last 2 Myriameter und 3 Kilometer weit.
Wie weit fährt man dieselbe Last für 11 Thaler? (griech. Myrio = 10000; 1 Myriameter = 10 km)

Was stellt man sich bei folgender Aufgabe von 1857 vor:

In einer Schulanstalt wurden im 1. halben Jahr 4 Rieß 18 Buch Papier verbraucht, im zweiten 5 Rieß 16 Buch; wie viel im ganzen Jahr? Die Lösung: 1 Ballen, 14 Buch. Dazu muss man eben wissen: 1Ballen = 10 Rieß, 1 Rieß = 20 Buch, 1 Buch = 24 Schreibbogen oder 25 Druckbogen. Die Schule hat also 5236 Bogen Papier verbraucht.

Was heute nur noch Papierspezialisten und Druckern bekannt ist, gehörte damals zum Alltagswissen.

Beim Kauf von Eiern zählte man in Süddeutschland meist in Dutzend, in Norddeutschland in Mandel = 15 Stück oder Schock = 60 Stück. Man kann sich gut vorstellen, dass ein gewaltiger Anteil der Aufgaben in den Rechenbüchern mit Währungen und Maßen zu tun hat.

Auch die Berufswelt, die in den Aufgaben angesprochen wird, entspricht nur noch zum geringen Teil unserer Erfahrung: Schneider, Metzger, Gärtner oder Gastwirt sind uns vertraut, aber Seifensieder, Lohgerber, Nagelschmied, Zinngießer, Fassbinder, Ziegelbrenner oder Tagelöhner kennen wir nur noch aus der Literatur oder geschichtlichen Quellen. Ähnlich ist es mit zahlreichen Objekten, die in den Aufgaben vorkommen, wenn beispielsweise die Größe einer Wäschebleiche zu berechnen ist, Eichenlohe transportiert, Leinwand gewebt wird, oder der Preis für einen Ballen Flanell zu berechnen ist. Was fangen wir heute mit der Bezeichnung Rüböl an? Der Siebtklässler von 1850 wusste, dass es aus Rübsen, einer dem Raps verwandten Pflanze gewonnen und als Lampenöl oder billiges Speiseöl benutzt wurde. Wenn Baumöl auftaucht, handelt es sich um Olivenöl.

Mit Hilfe der Rechenaufgaben lässt sich ein detaillierter Einblick in die Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse des jeweiligen Zeitabschnitts gewinnen, da man davon ausgehen kann, dass die genannten Preise, Löhne; Zinsen u.s.f. ziemlich nah an der Wirklichkeit bleiben.

1885 kostet ein Ei 5Pf., 1 l Bier 25 Pf., 1 l Wein 80 Pf., 1 kg Reis 60 Pf., 1 kg Kartoffeln 7 Pf.Eine Arbeitsfrau hat einen Tagelohn von 1,10 M, ein Tagelöhner verdient 9,30 M in der Woche, ein Zimmermeister 19,80M.

Im Vergleich hätte sich ein Tagelöhner mit seinem Monatsverdienst 800 Eier, ein heutiger Arbeiter mit 1000 € netto 5000 Eier kaufen können. Beim Bier wäre das Verhältnis 160 l damals zu 750 l heute.

Auch die sozialen Unterschiede im 19 Jahrhundert werden sichtbar, wenn man folgende Aufgabe heranzieht:

Ein Kapitalist nahm täglich (!) 18,50M Zinsen ein und verbrauchte täglich im Durchschnitt 10,50 M. Wie viel kann er im Jahr sparen?

Ich möchte mich nun einigen Lebensbereichen zuwenden, die den Hintergrund für die Formulierung von Rechenaufgaben geliefert haben.

In allen Büchern ist das Thema Arbeit vertreten. In einem Rechenbuch von 1834 steht folgende Aufgabe:

6 Arbeiter machen in 9 Tagen, wenn sie täglich 10 Stunden arbeiten, einen Graben von 24 Ruthen Länge; wie lang ist der Graben, den 10 Arbeiter bei einer täglichen Arbeitszeit von 12 Stunden ausheben?

Auch in vergleichbaren Aufgaben werden lange tägliche Arbeitszeiten von 10 bis 12 Stunden zu Grunde gelegt. Erst 1882 beginnt eine Aufgabe: O arbeitet 6 Tage lang 10 Stunden, N 8 Tage täglich 8 Stunden. In dieser Veränderung der Arbeitszeit spiegelt sich die intensive Diskussion um die zumutbare tägliche Arbeit, die, von England ausgehend, ab der Jahrhundertmitte auch in Deutschland aufgekommen ist. Auf dem Kongress der Internationalen Arbeiter Assoziation 1866 in Genf wurde, auch unter Mitwirkung von Marx und Engels, der Achtstundentag gefordert. In der Folge führten einzelne Firmen diese Zeitregelung ein, doch erst 1918 wurde der Achtstundentag in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben.

Die folgende Aufgabe aus einem Rechenbuch von 1837 zeigt einen anderen Aspekt des Themas Arbeit:

6 Kinder stricken bei 15stündiger Arbeit in 17 Tagen 34 Paar Strümpfe. In wie viel Tagen werden 30 Kinder bei 16stündiger Arbeit 800 Paar Strümpfe stricken?

Wer glaubt, bei den Arbeitszeiten handle es sich um Druckfehler, nehme die folgende Aufgabe :

3 Mädchen verspinnen in 4 Tagen bei 12stündiger Arbeit für 11/8 Thaler Flachs. Für wie viel Geld werden demnach 11 Mädchen bei 15stündiger Arbeit spinnen?

Kinderarbeit war gesellschaftlicher Alltag, ein preußischer Erlass aus dem Jahre 1839 beginnt: "Vor zurückgelegtem 9. Lebensjahr darf Niemand in einer Fabrik oder bei Hütten- und Bergwerken zu einer regelmäßigen Beschäftigung angenommen werden." (Hansen, S.75) - Mit 10 Jahren darf also eingestellt werden.

Sicher wirkte die zunehmend sich durchsetzende Schulpflicht der Kinderarbeit entgegen. Aber noch das Kinderschutzgesetz von 1903 verbot nur die Beschäftigung fremder Kinder unter 12 und eigener unter 10 Jahren und begrenzte die Lieferantentätigkeit von Kindern vor dem Schulunterricht auf 1 Stunde. Ob das immer eingehalten wurde, darf bezweifelt werden.

Eine andere Aufgabe spricht einen besonderen Schultyp an:

Die Kinder einer Spinnschule können den vorräthigen Flachs in 21 Tagen verspinnen, wenn sie täglich 7 Stunden arbeiten. Wie viel Tage benötigen sie, wenn sie täglich 6 Stunden arbeiten?

Spinnschulen zählen zu den sogenannten Industrieschulen, die ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert entstanden sind, um, wie es hieß, dem Elend von Waisen und aufsichtslosen Arbeiterkindern etwas entgegen zu setzen. In einer Kombination von Schulunterricht und Arbeit wie Nähen, Stricken, Spinnen für Mädchen oder Gartenarbeit, Schuhmachen , Korbflechten für Jungen sollte die Schuljugend vor Müßiggang bewahrt werden und Nützliches lernen. Der Erlös aus den Produkten diente dem Unterhalt und der schulischen Ausbildung.

Auch die ländliche Arbeitswelt von damals sieht sich in den Aufgaben anders an als die heutige; Handarbeit ist gefragt und das notwendige Gerät wird vom Handwerker angefertigt. Ein Beispiel von 1857:

Ein Schmied hat einem Wagner 360 Eggezinken geliefert. Wie viel Eggen kann dieser damit versehen, wenn er zu jeder 24 gebraucht? (R/G 86/83)

Oder:

Ein reicher Bauer hatte in einer Scheune 15 400 Garben Weizen und 12 500  Garben Roggen. Wie viel Garben muss er täglich dreschen lassen, wenn die Arbeit in 4 Monaten beendet sein soll? (R/G 164/144 leicht abgewandelt)

Ein drittes Beispiel:

4 Mann mähen ein Haferfeld bei 9stündiger Arbeit in 9 Tagen. In wie viel Tagen werden 3 Mann bei 12stündiger Arbeit dasselbe abmähen? (Bosse 13/8)

Im letzten Drittel des Jahrhunderts sieht man an den Aufgaben, dass sich auch im bäuerlichen Umfeld neue wissenschaftliche und ökonomische Überlegungen durchsetzen.

Ein Landwirt füttert 6 Pferde 175 Tage lang, indem er jedem 10 Pfd Hafer, 9 Pfd Heu, 6 Pfd Weizenstroh und 8 Pfd Mohrrüben täglich darreicht. Jedem Pferd lässt er 10 Pfd Stroh einstreuen. Wie viel Dünger gewinnt er? (R/G 1875 119/127)

Für große Teile der agrarisch orientierten Gesellschaft ist auch die folgende Aufgabe nicht lebensfremd:

Schweinefleisch verliert beim Räuchern durchschnittlich 18% seines Gewichts. Wie hoch stellt sich demnach 1 kg geräuchertes Fleisch, das frisch 1,40 M kostet? (Casper/Dammert 37/4)

Werfen wir einen Blick auf Aspekte des bürgerlichen Lebens. Eine Aufgabe aus dem Jahre 1830 lautet:

Zu einem guten Dintenpulver nimmt man 7 Loth Eisenvitriol, 8 Loth Galläpfel und 4 Loth arabisches Gummi; wie viel nimmt man von jedem, wenn man 4 Pfund haben will?

Mancher Krämer oder Drogist hat die Tinte nicht vom Großhändler bezogen, sondern nach überlieferten Rezepten selbst angerührt.

Man war nicht zimperlich in der Offenbarung selbst gefährlicher Mischungen:

Wenn das Verhältnis der Mischung des Schießpulvers auf 100 Teile Salpeter, 18 Schwefel und 20 Kohlen ist, wie viel brauche ich von jedem, um 5 Pfund Schießpulver zu verfertigen? (Kißling 305)

Der Umgang der Kinder mit Pulver bzw. Gewehren führte 1840 sogar zu einer königlichen Kabinettsorder: "Die von Kindern durch den unvorsichtigen Gebrauch von Schießgewehren herbeigeführten häufigen Unglücksfälle haben des Königs Majestät veranlasst, den Befehl zu geben, dass die Kinder in der Schule vor dem fahrlässigen Umgehen mit Schießpulver und Gewehren bei geeigneten Gelegenheiten gewarnt werden sollen." (Hansen S. 89)

Hier bietet sich eine geeignete Überleitung zum Thema Militär. 1814 war in Preußen die allgemeine Wehrpflicht eingeführt worden; damit war jeder taugliche männliche Einwohner betroffen und das Militär zum Gegenstand permanenter Erfahrung geworden. Über den gesamten Betrachtungszeitraum findet man in den Rechenbüchern Aufgaben mit militärischem Bezug, wobei man in der wilhelminischen Ära eine quantitative Zunahme beobachten kann. 

Hier einige Beispiele:

1830: Ein Soldat bekommt alle 5 Tage 36 kr. Löhnung; wie viel beträgt die Löhnung für 1 Bataillon von 500 Mann in 1 Jahr? (Kißling 280/499)

1837: In einer belagerten Festung liegt eine Besatzung von 9000 Mann, welche für 18 Monate Lebensmittel haben. Nach 3 Monaten entkommen 3000 Mann aus der Festung. Wie lange haben die Zurückbleibenden nun noch Lebensmittel? (Bosse 7/39)

1874: Wenn die Unterhaltung eines gemeinen Soldaten täglich 40 Pf kostet, wie viel Soldaten kann man für 146 000 ein Jahr lang halten? (Gruber 42/5)

1918 schlagen sich die Erfahrungen des 1. Weltkriegs nieder:

Fünf Gemeinden sollen mit 3020 Mann Einquartierung belegt werden. Die Verteilung erfolgt nach der Einwohnerzahl. Die Gemeinden haben a) 500, b) 300, c) 2500, d) 750, e) 3500 Einwohner. (Casper/Dammert 61/6)

Welchen realen Hintergrund die folgende Aufgabe aus der ersten Jahrhunderthälfte besitzt, kann ich nicht sagen.

1 Obrist, 3 Capitains, 9 Lieutenants, 36 Unteroffiziere, 600 Gemeine machen  eine Beute von 10 000 Thalern, welche sie so teilen wollen, dass der Obrist ... usw... erhalten sollen. Rechne mit Dezimalbrüchen. (Böhme 182/31)

Generell kann man sagen, dass, nach den Rechenaufgaben, das Militär positiv besetzt war und ein selbstverständlicher Bestandteil des Lebens bildete. Ich möchte noch ergänzen, dass in den Rechenbüchern der NS-Zeit Aufgaben mit militaristischem Inhalt in einer ungleich größeren Zahl vertreten waren.

Ein anderer Sektor, der Rechenaufgaben lieferte, ist die Technik und das Verkehrswesen. Anfangs sind beim Verkehr vor allem Fußgänger und Fuhrwerke die Akteure:

4 Fuhrleute übernehmen, 244 Ctr Waaren für 472 Thaler 16 Sgr 36 Meilen weit zu fahren. Wieviel beträgt der Fuhrlohn auf 1 Meile? (Bosse 9/17)

Aufgaben dieser Art finden sich über das ganze Jahrhundert in fast allen Büchern. Ab dem letzten Drittel wird auch die Eisenbahn als Verkehrsmittel berücksichtigt:

Ein Personenzug fährt mittags 12:22 von Koblenz und kommt 3Std 23 Min später in Trier an. Wie viel Uhr ist es dann? (K/S II.H. 60/10)

Sogar die Reisezeit von Dampfschiffen auf dem Rhein steht nun zur Berechnung an.

Die Technik, die in der Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert einen bemerkenswerten Aufschwung nahm, bleibt überwiegend auf den ländlichen Erfahrungsraum beschränkt. Dampfhämmer, Dampfmaschinen, Eisenhütten, die Förderanlagen der Gruben, die in den neuen Industrierevieren Landschaft und Leben mitbestimmen, treten ganz selten auf, während immer wieder einfache überkommene Maschinen einbezogen werden:

In einer Mühle wird von 2 Mahlgängen eine gewisse Menge Getreide in 30 3/4 Stunden gemahlen. In welcher Zeit hätten 5 Gänge dies getan? (R/G 57 283/87)

Das Kammrad einer Mühle hat 112 Zapfen, ein anderes, das in das erste eingreift, hat 28 Zapfen. Wie viele Umläufe macht das letztere Rad, wenn das erste eine macht? (R/G 57 232/68 modif.)

Erst 1875 findet sich ein Bezug zur inzwischen verbreiteten Dampfkraft:

Ein Dampfcylinder hat 1,4m Höhe und 0,7m Durchmesser. a) wie viel cbdcm Dampf fasst derselbe? b) Wie viel cbcm Wasser gehört dazu, wenn 1 cbcm Wasser 938 cbcm Dampf gibt? (R/G 75 113/75)

Um 1900 kommt auch der Telegraph ins Spiel:

Wieviel kostet eine Drahtnachricht von 8, 15, 20 Wörtern? Grundgebühr 40 Pf, 1Wort 9 Pf.

Immer wieder gewähren uns Rechenaufgaben einen Blick in den Haushalt der damaligen Zeit, hier Ende der fünfziger Jahre:

Eine Hausfrau kaufte ein Fässchen Butter, welches 31 3/4 Pfund wog, für 4 Thlr 27 Sgr. Wie teuer war das Pfund Butter? (R/G 57 213/32)

Eine ähnliche Aufgabe in einem Buch 40 Jahre später:

Ein Fass Butter wiegt 16 4/5 kg. A nimmt davon die Hälfte, B den 3. und C den 6. Teil. Wie viel kg erhält jeder?

Die Buttermengen, um die es hier geht, sind für uns heute erstaunlich. Sie werden verständlich, wenn man sich klar macht, dass es in einer Zeit ohne Kühlschrank und ohne Auto andere Praktiken der Vorratshaltung gab, dass Butter dazu gesalzen oder zu Butterschmalz ausgelassen wurde. 

Zum Thema Fett im Haushalt noch folgendes Beispiel:

Frau Berg bereitet sich Speisefett, indem sie zusammenschmilzt: a) 2 kg Nierenfett und 1 kg Butter ...c) 2 1/2 kg Schmalz, 1 1/2 kg Nierenfett und 1 kg Butter. Preise: 1 kg Butter 1,80 M, Schmalz 1,20, Nierenfett 90 Pf. Wie teuer ist ein kg des jeweiligen Speisefettes? (Terlinden 63/18)

Ein anderes Gut des täglichen Bedarfs ist Zucker, der uns auch anders als heute begegnet:

Aus einer Zuckerfabrik wurde eine Anzahl Körbe mit 410 Zuckerhüten versendet. Jeder Korb enthielt 27, einer aber 32 Zuckerhüte. Wie viele Körbe waren es? (R/G 57 88/94)

Zuckerhüte kennen wir nur noch von der Feuerzangenbowle; damals waren sie die übliche Form, in der Zucker gehandelt wurde. In alten Rezeptbüchern liest man oft: Man zerstoße ein Pfund Zucker. In der Küche wurden Zuckerhüte im Mörser zerkleinert. Die Zuckerhutform hat mit der Zuckerherstellung zu tun. Man ließ die aus den Zuckerrüben gewonnene, geklärte und konzentrierte Zuckerlösung bei einer bestimmten Temperatur in kegelförmigen Behältern, der sogenannten Nutschbatterie auskristallisieren. Was herauskam nannte man Zuckerbrot oder Zuckerhut. Beim Einkauf zogen viele Leute die Hüte gestoßenem Zucker vor, da letzterer auch schon einmal durch Mehl, Gips oder Kalk "verlängert" sein konnte.

Statistik und Ernährungskunde sind nicht erst Erscheinungen unserer Zeit. 1873 lautet eine Aufgabe:

Als die wohlfeilste und gute Nahrung für einen ausgewachsenen Mann wurden festgestellt 580g Brod, 270g Bohnen, 125g Fleisch, 330g Kartoffeln. Wie viel hat man von jedem für 5 Personen nötig? (Scherer 3/30)

Die angegebene Bohnenmenge kann erklären helfen, warum es in literarischen Darstellungen bei armen Leuten oft nach sauren Bohnen riecht. 

Auch andere Zusammenhänge des Haushalts werden für Aufgaben herangezogen. Immer wieder wird Tuch gekauft und von der Mutter, einer Näherin oder dem Schneider verarbeitet, sei es Kattun, Leinwand, Barchent oder Schirting, denn alles, was wir heute im Kaufhaus oder Versandhandel erwerben wurde individuell angefertigt.

 Zum Beispiel:

Wieviel Handtücher kann Frau Lode aus 30m Leinwand schneiden, wenn zu einem Handtuch 1 1/4 m gebraucht werden? (Terlinden 23/117)

In mehreren Rechenbüchern begegnen wir Siegellack :

Feines rotes Siegellack besteht aus 128 Theilen Schellack, 96 Theilen Terpentin, 64 Theilen Zinnober, 30 Theilen Kreide und 1 Theil Storax. wieviel von jeder Materie sind demnach in 120 Pfund Siegellack enthalten? (Bosse 36/16)

Zinnober=Mennig, Storax=Räucher-/Duftharz

Eine eigene thematische Kategorie bilden Rechenaufgaben mit sozialem Hintergrund:

Etliche Bettler sprachen mich um ein Almosen an; ich wollte jedem 4 kr.geben, aber dann mangelten 6 Kreuzer; ich gab daher jedem 2 kr. und es blieben mir 2 kr. übrig. Wieviel Bettler waren es? (Friedl 231/II)

Wohltätigkeit erscheint auch auf andere Art:

Ein Wohltäter verordnet durch Testament, dass am Ende jeder Woche den Ortsarmen 7 Mark 50 Pfennig ausbezahlt werden sollen; welches Kapital ist hierzu nöthig, wenn 3% (Verzinsung) gerechnet werden? (Scherer 15/188)

Es gibt aber auch die andere Seite sozialer Einstellung:

Ein Wucherer leiht einem armen Manne 25 M. Um ihm die Sache leicht zu machen, lässt er sich jede Woche 10 Pf. Zinsen zahlen. Berechne den Prozentsatz. (Kasper/Dammert 51/9)

Man spricht über Bettler, man nennt Wohltätigkeit und Wucher beim Namen; es wird deutlich, wie durch die modernen Sozial- und Kreditsysteme heute diese Sphäre einer größeren Anonymität unterworfen ist.

Zum Schluss möchte ich durch die Brille der alten Aufgaben einen Blick auf die Schule werfen. Was wir mit Hilfe der Rechenaufgaben wahrnehmen, kann das schulgeschichtliche Wissen, das wir aus anderen Quellen gewonnen haben, vertiefen und differenzieren. 

In einem Buch von 1837 handeln mehrere Aufgaben vom Schulgeld:

Ein Lehrer erhält von 189 Schülern jährlich 273 Thaler Schulgeld. Wie viel also von jedem Schüler wöchentlich? (Bosse 9/14)

Für uns enthält die Aufgabe zwei recht befremdliche Aussagen: Schüler zahlen Schulgeld und ein Lehrer hat 189 Schüler. Ist das Realität oder Rechenaufgaben-fantasie? Lehrer waren bis um 1880 keine Beamte, sondern Angestellte der Gemeinden. Ihr Einkommen bestand aus dem Schulgeld, das die Eltern für ihre Schulkinder zu bezahlen hatten, aus Nebeneinnahmen für Kirchendienste wie Orgelspielen und Glocken läuten und aus Sachzuwendungen oder Nutzungsrechten der Gemeinde. Es gab für den Schuldienst ein unteres Limit von 260 Talern, einschließlich der Naturalien; wurde dieser Betrag durch Schulgeld nicht erreicht, gab es einen Ausgleich aus der kommunalen Armenkasse. Auch die Zahl von 189 Schülern bei einem Lehrer war möglich. Es waren in den Ländern zwar Obergrenzen festgelegt, in der ersten Jahrhunderthälfte 130 Schüler, später 90. Ab diesen Grenzen sollte sich der Lehrer einen Gehilfen anstellen, einen jungen Mann, der die Absicht hatte und geeignet war, ein Lehrerseminar zu besuchen. Doch diesen Gehilfen musste der Lehrer aus seinen Einnahmen selbst bezahlen. Nun gab es Lehrer, die sich lieber mit 180 Schülern abplagten, als auf ein paar Taler Schulgeld zu verzichten. Sie gaben dann vor, keinen Gehilfen zu finden.

Noch zwei Aufgaben zu einem anderen schulischen Bereich:

Anton besaß ein und ein halbes Buch Papier. Er machte 4 Schreibhefte von 5 Bogen. Wie viel Papier behielt er noch? (R/G 57 26/24) Ein Lehrer verteilte unter 10 Schüler 96 Bogen Papier. Die 4 größeren erhielten zusammen so viel als die 6 übrigen. Wie viel Hefte zu 4 Bogen konnte sich jeder Schüler machen? (R/G 57 18/39)

Bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus war die Beschaffung von Schreibmaterial nicht ganz einfach. Konfektionierte Schulhefte gab es noch nicht. In den Städten hatten die Buchbinder selbst gebundene Hefte vorrätig oder fertigten sie nach den Wünschen der Kunden an. Viele Eltern kauften das Papier in Bogen, falteten diese und hefteten sie mit Nadel und Faden zusammen. Es gibt einen interessanten preußischen Erlass von 1851: "Die Deckel der Schreibhefte mit revolutionären oder unsittlichen Bildern und Inschriften betreffend." Es soll "...gegen diejenigen Buchbinder gesetzlich eingeschritten werden, aus deren Hände dieselben gekommen sind." (Hansen S. 130)

In unserem zweiten Aufgabenbeispiel gibt der Lehrer die Papierbogen aus. Das zeigt, dass die Beschaffung von Schreibmaterial auf dem Land Schwierigkeiten bereitete; um einen geordneten Unterricht zu gewährleisten, haben sich die Lehrer um das Schreibpapier gekümmert. Das schienen manche Lehrer sogar als eine Quelle für Nebeneinnahmen genutzt zu haben, was aus einem Erlass von 1842 hervorgeht: "Volksschullehrer, welche den Bedarf ihrer Schüler an Schreibmaterialien lediglich zum Gebrauche für ihre Schule verkaufen, sind deshalb nicht zur Gewerbesteuer heranzuziehen." Die Ortsschulvorstände sollen aber darauf achten, dass die Schullehrer keine steuerpflichtigen Geschäfte betreiben und von den Schülern keine unangemessenen Preise fordern.

Andere Gebiete des Schulbetriebs, die in Aufgaben vorkommen und schulgeschichtlich betrachtet werden können, sind Kauf von Schiefertafeln, Schulhausbau, oder Klassenraumberechnung.

Sicher decken Rechenaufgaben inhaltlich längst nicht alle Lebensbereiche ab; in ihnen schlagen sich natürlich auch die Erfahrungswelt und die Vorlieben der Verfasser nieder. Aber sie erzählen doch sehr viel über ihre Epoche. Man darf auch davon ausgehen, dass sie der Wirklichkeit ihrer Entstehungszeit ziemlich nahe kommen, dass die genannten Preise, Mengen, Größen die Realität widerspiegeln.

Verwendete Rechenbücher:

dazu: