Kartoffeln und Schule

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Kartoffeln und Schule
von Horst Schiffler

Es waren im 18. Jahrhundert oft die gleichen Landesfürsten, die die allgemeine Schulpflicht einführten und für die Verbreitung der Kartoffel in ihrem Herrschaftsgebiet sorgten. Das Musterbeispiel dafür ist Friedrich der Große mit seinem General-Landschul-Reglement von 1763 und dem Kartoffelerlass von 1756.

Wer nun vermutet, die aufgeklärten Landesherren seien schon so aufgeklärt gewesen, die Schulen für die Kartoffel in Dienst zu nehmen, geht in die Irre. "Ein bißgen Lesen und Schreiben", wie Friedrich dekretiert, viel Katechismus und Bibel, sowie fleißiger Gesang von Kirchenliedern ließen für lebenspraktische Inhalte im Stundenplan keinen Raum. Erst die Pädagogen ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erkannten und propagierten den Wert der Schule für die Lebensertüchtigung des Volkes.

1781 gab der brandenburgische Landadelige Eberhard von Rochow als Schulpatron seiner Güter und Dörfer das erste weltliche Lesebuch heraus. Bis dahin las man im Katechismus, der biblischen Geschichte oder in ausschließlich religiös-moralischen Lesebüchern. Rochows "Kinderfreund" ist das erste Schulbuch, in dem die Kartoffel auftritt. In einem Text "Von Nahrungsmitteln" geht es um richtige Ernährung:

Eine Frau, die entweder geizig, oder unverständig, oder sehr arm war, gab ihren kleinen Kindern nichts als Mehlsuppe oder Ertoffeln, ohne genugsames Salz, zu essen. Da bekamen die Kinder blasse Gesichter und dicke Leiber, und eins starb nach dem andern hin. Als sie über ihren Verlust einstmals sehr weinte, da sagts ihr ein verständiger Mann, der es wol wußte. "Ach", antwortete sie ihm, "wie weiß unser eine das? Und dann ist Salz theuer. Ertoffeln in der Asche gebraten, und Mehlsuppe, ist bald gemacht, und man wird doch auch satt davon."

Der verständige Mann klärt die Frau auf, dass es nicht nur um das Sattwerden gehen kann, sondern um eine Vielfalt an Nährstoffen, sie hätte ihren Kindern auch Buttermilch und Gemüse geben müssen.

Interessant ist außer dem Namen Ertoffel, dass die Kartoffel hier - 1781- schon als Armeleutekost gekennzeichnet und das Garen in der heißen Holzasche als bequeme Zubereitungsart überliefert wird.

Eberhard von Rochows Lesebuch findet bald Nachahmer, weil man nun das Lesebuch und die Leseübung als wertvolles Transportmittel für nützliche Kenntnisse erkannt hat.

1792 gab der fränkische Pädagoge Georg Friedrich Seiler in Erlangen sein "Allgemeines Lesebuch heraus. Darin findet sich ein Kapitel "Küchenkräuter, Hülsen- und einige andere Früchte", in dem auch die Kartoffel erscheint. Wir lesen:

"Unter den Wurzelgewächsen sind die Kartoffeln besonders merkwürdig. Sie sind zuerst 1585 aus Virginien in Nordamerika nach Europa, insonderheit um das Jahr 1623 nach Irland, von da nach England, und so weiter nach den Niederlanden, nach Deutschland und anderen Ländern gekommen. Man richtet sie auf mancherley Art als Speise zu, macht ein schönes Mehl daraus, und kann sie auch unter das Brod backen."

Bei diesem Text kann man ein Phänomen beobachten, das in Lesebüchern des 19. Jahrhunderts noch ausgeprägter in Erscheinung tritt: das Interesse an der Herkunft und der merkwürdigen Geschichte der Verbreitung der Kartoffeln in Europa.

In einem Lesebuch für die preußische Rheinprovinz von 1874 wird erzählt, wie Francis Drake einem Freund Kartoffel schenkte und mit den Worten "Die Frucht ist trefflich und nahrhaft" zum Anbau empfahl. Der Freund unternimmt den Versuch, isst die grünen Samenkugeln, ist enttäuscht und lässt die Pflanzen ausreißen. Der Gärtner verbrennt das getrocknete Kraut. An der Feuerstelle findet der Gutsherr angekohlte rundliche Knollen in der Asche, die an den gerodeten Stengeln hingen. Er zertritt eine und bemerkt im Inneren eine helle Masse, die angenehm riecht. Als er beim Kosten auch noch den Geschmack gut findet, wird ihm klar, was sein Freund Drake gemeint hat. Er ließ die Knollen, die noch in der Erde lagen, sammeln, überzeugte auch andere vom Wert der Frucht und begründete so den Kartoffelanbau in England.

Ein sehr umfangreiches Lesestück mit dem Titel "Die Kartoffel" in dem Lesebuch für die Rheinprovinz von 1912 beginnt mit einem Abschnitt, in dem der zeittypische moralische Zeigefinger unübersehbar ist.

"Trotz ihres geringen Nährwertes ist die Kartoffel ein wichtiges Nahrungsmittel geworden. Bei uns ist ihr Anbau noch ziemlich jung. Das Volk wehrte sich gegen die Einführung des fremden Gewächses und kümmerte sich nicht um die Verordnungen der Behörden, die den Anbau empfahlen, während es gierig nach dem Tabak griff, der mit der Kartoffel ungefähr gleichzeitig nach Europa gekommen war."

Ganz anders klingt es im "Lese- und Lehrbuch für Land-Elementarschulen" von 1850: "Die Kartoffel enthält neben den Kornfrüchten den meisten Nahrungsstoff und giebt von allen Gewächsen den höchsten Ertrag." Der Lesebuchbeitrag vermittelt eine umfassende Information über die geeignete Bodenbeschaffenheit, Arbeitsschritte vom Pflanzen bis zur Ernte, passende Nachbaupflanzen und geeignete Arbeitsgeräte. Das Lesebuch gehört zu dem Typ, aus dem sich die sogenannten Realienbücher entwickelt haben.

Diese kommen für die Volksschulen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf und umfassen außer naturkundlichen Inhalten auch solche aus Geschichte, Erd- und Weltkunde. In dem verbreiteten Realienbuch von Kahnmeyer vom Ende des Jahrhunderts aus einem Bielefelder Verlag ist das Kartoffelkapitel gegliedert in Geschichtliches, Teile der Pflanze und Kartoffelkrankheiten; der Kartoffelkäfer wird noch nicht erwähnt. In einem fast gleichzeitig im Rheinland erschienen Realienbuch dagegen ist dem Kartoffelkäfer ein eigenes Kapitel gewidmet mit der originalen Bezirks-Polizeiverordnung über den Kartoffelkäfer. Der Grund für diese Gewichtung lässt sich aus dem Text erschließen, der sich mit der Ausbreitung des Käfers beschäftigt. "1874 erreichte er die Küsten des Atlantischen Ozeans. Im Frühjahr 1877 wurde er in nordamerikanischen Häfen beobachtet und Ende Juni desselben Jahres fand man ihn auf einem Kartoffelfeld bei Mülheim am Rhein." Anders als in Bielefeld ist man am Rhein schon unmittelbar mit dem Schädling konfrontiert. Nachdem sich aus den Realienbüchern einzelne Fachbücher entwickelt hatten, begegnet man Solanum tuberosum auch in Botanikbüchern. In einem Biologiebuch der NS-Zeit von 1939 wird die volkswirtschaftliche Bedeutung herausgestellt, die Rekordernten von 1937 und 1938 werden betont, der Vierjahresplan für die Verwertung der Kartoffeln als Futtermittel und die Sortenbereinigung durch den Reichsnährstand werden zum Lehrstoff; der biologische Aspekt beschränkt sich auf die Verwandtschaftskunde, bei der außer der Tomate noch einige andere heimische Nachtschattengewächse behandelt werden.

Nach dem 2. Weltkrieg - bis Anfang der 60er Jahre - scheint man sich daran erinnert zu haben, wie froh man war, wenn man mit Kartoffeln den Hunger stillen konnte - Kartoffeltexte unterschiedlicher Art sind wieder würdig, in Lesebücher aufgenommen zu werden.

Danach hat sich die Freundschaft zwischen Kartoffel und Schule, außer in Biologie, weitgehend aufgelöst.

Es liegt nahe, dass sich mit Kartoffeln auch rechnen lässt, doch es dauert recht lange, bis sie in Rechenbüchern auftauchen. Das hat aber auch damit zu tun, dass sich die Didaktik erst im Laufe des 19. Jahrhunderts darauf besonnen hat, dass Rechnen mit lebensnahen Aufgaben nützlich sein kann. Solche angewandte Aufgaben können uns heute sogar das Leben in der Vergangenheit veranschaulichen, beispielsweise wenn es in einem Rechenbuch von 1873 heißt: "Wenn 8 Arbeiter einen Kartoffelacker in 3/4 Tag häufelten, wieviel Arbeiter hätten 1 Tag dazu gebraucht?" Es wird uns bewusst, wie arbeitsintensiv Landwirtschaft damals gewesen ist.

In der NS-Zeit erhalten Kartoffelaufgaben ein völkisches Gepräge:

"Während des Krieges konnten die Äcker nicht so gut bestellt und gedüngt werden wie im Frieden. 1918 wurden daher nur 29 469 718 t Kartoffeln geerntet. Fig, 5 zeigt graphisch die Ernte von 1919, die nach Fortfall der Ernte in den abgetretenen Gebieten für das deutsche Volk übrig blieb.

a) Wie groß war 1913 die Ernte in den abgetretenen Gebieten?
b) Wieviel bleibt von der Gesamternte Deutschlands 1913 nach Abzug dieser Ernte übrig?

Die Kartoffelernte Deutschlands betrug im Jahre 1912 in Millionen t 50209. Die Ernte Frankreichs lieferte 12775, Österreich baute 18515, Rußland 36922 Mill. t. Stelle Vergleiche an."

Ein ganz neuer Aspekt kennzeichnete das Verhältnis von Kartoffel und Schule nach Beginn des 2. Weltkriegs: Schulklassen wurden herangezogen, um den sich in Deutschland ausbreitenden Kartoffelkäfer zu bekämpfen. Begründet wurde das vor allem mit dem kriegsbedingten Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften. Klassenweise zogen die Schülerscharen in der Befallszeit mit Schachteln und Dosen über die Kartoffeläcker, um Käfer, Larven und Eier einzusammeln. Die deutsche Landwerbung gab eigens eine illustrierte Kartoffelfibel heraus, um zum richtigen Umgang mit dem Schädling anzuleiten. Auch nach dem Krieg wurde die Aktion fortgesetzt, bis die chemische Industrie wieder in Schwung kam und man mit DDT ein wirksameres Mittel zu besitzen glaubte. Im Amtlichen Schulblatt für das Saarland vom Juni 1946 lautet ein Erlass:

"Kartoffelkäferbekämpfung 17.6.1946Der Kartoffelkäfer tritt in nie dagewesenem Maße in diesem Jahr auf. Daher muss jeder mithelfen, der großen Gefahr, die unsere Ernährungssicherung bedroht zu begegnen.Aus diesem Grunde ist es erforderlich wie in den vergangenen Jahren, die Schulen in den Kartoffelkäfersuchdienst einzusetzen. Die Suchtage sowie das Aufsichtspersonal werden von den örtlichen Instanzen bestimmt. Die Lehrkräfte beteiligen sich nach Möglichkeit an der Aufsicht beim Suchdienst, der auch während der Ferien durchzuführen ist."

In der jungen DDR bekam das Kartoffelkäferthema eine politische Wendung, in Anlehnung an Propaganda in der NS-Zeit: Saboteure in amerikanischen Diensten sind am Werk, AMI-Käfer sollen die Ernte vernichten, der Kampf gegen die verderbenbringende Pest aus den USA ist Kampf gegen die Kriegspläne der Imperialisten, ist Kampf für den Frieden. Dafür haben sich alle einzusetzen.

Noch bis in die 50er Jahre konnte die Kartoffel die Schulferienordnung in ländlichen Regionen bestimmen. Ein Erlass von 1950 lautet:

"In ländlichen Orten können die Sommerferien um drei Wochen gekürzt werden und dafür Ferien zur Zeit der Kartoffel- und Rübenernte eingelegt werden. Die Herren Schulräte reichen mir hierzu Vorschläge im Einvernehmen mit den Herren Landräten bis zum 1. Juli 1951 ein."

Mit den Schulreformen ab den 60er Jahren beginnt auch ein abnehmendes Interesse am Kartoffelthema. Umso erstaunlicher ist, dass es in jüngster Zeit wieder auflebt. Im Bildungsserver "//Lernarchiv Grundschule Sachunterricht" von Hessen werden ein Lernzirkel zum Thema "Kartoffel" mit 44 Seiten, außerdem Unterrichtseinheiten und Anregungen angeboten. Im Rahmen eines EU-Schulobstprogramms bietet Nordrhein-Westphalen Material mit 16 Themen zur Kartoffel; sogar ein Film mit dem Titel "Kartoffel - Geheimtipp aus Peru" kann abgerufen werden. Man würde wohl in den Internet-Angeboten aller Bundesländer Entsprechendes finden. Ob davon etwas in der Schule ankommt, hängt allerdings vom Geschmack der Lehrkräfte ab.

Unter dem Thema "Kartoffel und Schule ist auch noch zu erinnern an die Gestaltungen mit Kartoffeldruck im Kunstunterricht, die bei moralinsauren Eltern manchmal Protest ausgelöst haben, da man angesichts hungernder Kinder in der Welt ein so wichtiges Lebensmittel nicht zu schnöden Basteleien missbrauchen dürfe. Den Kindern hat es Spaß gemacht, und sie haben Dank der Kartoffel ihre Kreativität entwickelt und etwas über Drucktechnik gelernt.

Manchen ist auch noch eine schulische Kartoffelverwendung in Erinnerung, die vom Schulpersonal nicht gerne gesehen wurde. Sie ging so: Man nahm einen Bleistiftverlängerer aus Aluminium, einen Pinsel aus dem Farbkasten und eine Kartoffelscheibe von ca. 1 cm Dicke. In jedes Rohrende einen Kartoffelpfropfen, mit dem Pinselstiel einen davon zügig ins Rohr gedrückt und mit deutlichem Pflopp flog der andere Pfropfen in die Gegend, gut gezielt, einem Mitschüler in den Nacken.