Die Elementarschule, die spätere Volksschule konnte zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch ein Bild abgeben, wie es Nikolaus Driesch in seinem biografischen Nachlass von seinem Vater, der als Winterschullehrer in der Trierer Gegend gewirkt hat, aufzeichnete:
"Peter Driesch, der Leineweber, wurde von wohlmeinenden Bewohnern des Dorfes angegangen, die Schule während des Winters zu übernehmen, und die Kinder im allgemeinen lesen, im besonderen auch ausnahmsweise schreiben zu lehren. Die Schule hielt vordem der Kuhhirt des Dorfes; der Schweinehirt war nie mit der Schulhaltung beauftragt, weil er nicht, wie der Kuhhirt, im Winter frei war. […] Ein Schulhaus hatte damals die Gemeinde nicht. Die Schule ging deshalb reihum von Haus zu Haus und verweilte in allen Häusern, worin sich Kinder befanden, nach Verhältnis der bezüglichen Anzahl. […] Was zur Schule gehörte, lag auf dem Tisch; dazu gehörte auch eine Birkenrute und ein Pfotenbrettchen. Zu Beginn, wenn die Kinder alle versammelt waren, begann das Sondern und Setzen derselben nach ihren bezüglichen Kenntnissen. Obenan saßen die Kinder, die schon lasen; diesen folgten jene, die buchstabierten; die letzte Stelle nahmen die ABC-Schützen ein. Am erwähnten Tische saßen einige elf- bis zwölfjährige Knaben, die sich des Schreibens befleißigen zu wollen das Ansehen hatten. Kein Mädchen lernte in dieser Zeit schreiben." [1]
Es galt die Gleichung: arme Gemeinde mit wenig Kindern = armer Lehrer.
Ein anderer Punkt, der die Landschule in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts belastete, behandelt ein Artikel in einer Lehrerzeitschrift von 1812:
"Keine Klage der Schullehrer ist allgemeiner, und keine zu ihrer Rechtfertigung im Betreff ihres Fleißes als Lehrer begründeter, als die des vernachlässigten Schulbesuchs von den Kindern in der Sommerschule. Da dem Bauersmanne Feldbau und Viehzucht gewissermaßen sein Abgott, und der Pflug sein Christenthum ist, so schränken sich seinem Gutdünken nach die Pflichten der Kinderzucht lediglich darauf ein, sein Kind groß zu ziehen, um es, sobald es Alter und Kräfte erlauben, zu Erreichung seiner zeitlichen Absicht zu gebrauchen. Nicht also Ausbildung seines Geistes und seiner Seelenkräfte […] sondern Bildung physischer Kraft zur materiellen Benutzung liegt ihm am Herzen. … er entzieht sein Kind auch außer den Ferien, so oft es ihm gefällt, der Schule, um es zu seinem Geschäften zu brauchen." [2]
Die Klagen der Lehrer beziehen sich nicht nur auf die Unterrichtsversäumnisse, sondern auch auf die damit einhergehende Vorenthaltung des Schulgeldes, und sie ziehen sich noch lange hin.
Die allgemeine Unterrichtssituation zu Beginn des 19. Jahrhunderts lässt sich folgendermaßen charakterisieren:
Trotz der staatlich verordneten Schulpflicht gibt es große Unterschiede im Bildungsangebot zwischen Stadt und Land und zwischen Arm und Reich. Das zeigt sich in der räumlichen und sachlichen Ausstattung - Gemeinden ohne eigenes Schulhaus, mit Wanderunterricht stehen Stadtschulen mit mehrklassigen Schulgebäuden und ausreichender Ausstattung gegenüber, es zeigt sich im Ausbildungsstand der Lehre, - hier der ältere Handwerkerlehrer ohne pädagogische Vorbildung, dort der am Lehrerseminar fachlich und pädagogisch ausgebildete Lehrer; es zeigt sich im Bildungsanspruch bzw. der Bildungsbereitschaft der Eltern, - auf der einen Seite Eltern, die ihre Kinder als wichtige Helfer im Kampf um das tägliche Dasein begreifen, andererseits Eltern, die die Schule als unerlässliche Pforte für zukünftige Lebenschancen akzeptieren. Diese Unterschiede mussten sich auch auf die Art und den Ertrag des Unterrichts in Lesen und Schreiben auswirken. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gelang es, einen weitgehenden Ausgleich dieser Differenzen herbeizuführen.
Auch was das Schreiben betrifft, ist ein großer Abschnitt des 19. Jahrhunderts Entwicklungszeit.
In seiner Selbstbiografie schrieb der Lehrer Friedrich Polack bezogen auf die Zeit um 1840:
Es herrschte noch lange Notstand. Das beginnt schon mit der Raumsituation. In vielen Schulen fehlten anfangs Bänke mit Schreibpulten. Es sind vielleicht zwei normale Tische vorhanden, an die die Schüler wechseln, die gerade das Schreiben üben. Die Körpergröße blieb unberücksichtigt. Noch bis in die zweite Jahrhunderthälfte beklagten sich die Lehrer, dass sie zu viel Zeit auf das Spitzen der Gänsefedern verwenden müssen, da die Kinder nicht achtsam mit den Kielen umgingen; erst danach setzte sich allmählich die robustere Stahlfeder durch. Dass man auch auf Schiefer schreiben kann, war bekannt; seit dem 16. Jahrhundert sind bei Kaufleuten sogenannte Nürnberger Schieferbücher in Gebrauch, handliche zusammengebundene Schieferplatten im Taschenformat für Notizen und Rechenoperationen.
Die Schulpflicht löste den Bedarf an preiswertem Schreibmaterial für Schüler aus, und um 1800 sind Schiefertafeln in Schulen erstmals nachweisbar. Manche Schreibdidaktiker lehnten sie ab, weil sie zu einer "harten verkrampften Hand" führten und den differenzierten Strich der deutschen Schrift nicht zuließen. Aber mit der Zunahme der in der Schule geforderten Schreibübungen war die Wiederverwendbarkeit ein nicht zu überbietendes Argument, und sie gehörte bald neben Fibel und Katechismus zur Standardausstattung. Auch die Methodik des Schreibunterrichts scheint lange unterentwickelt gewesen zu sein, noch 1876 heißt es in einem Wegweiser für den Schreibunterricht: "Kein Wunder ists daher, wenn im Schreiben noch in einem großen Theile der Volksschulen Deutschlands nach dem alten Schlendrian und Mechanismus unterrichtet wird," und dann wird das alte Verfahren beschrieben: "Die Schreibebücher [dicke fest gebundene Hefte] werden ausgetheilt. Die Schüler fangen an zu schreiben, entweder nach der als Karte vorgelegten oder nach der gleich ins Heft gedruckten Vorschrift. Alle Schüler schreiben nun Verschiedenes. ein jeder nach seinen Fortschritten. Alle malen nun Buchstaben und Wörter, die aus den verschiedensten Grundzügen bestehen, in entfernter Ähnlichkeit nach, ohne zuvor die zu schreibenden Schriftzeichen richtig angeschaut und geistig klar aufgefasst zu haben. Dieser thut, als ob er schreibe und plaudert dabei mit seinem Nachbar. Jener hat die Vorschrift verkehrt vor sich liegen und pinselt und malt die Buchstaben nach, wie`s ihm gerade gut dünkt." [5]
Hier mag auch Übertreibung und Polemik im Spiel sein, um den Wert der eigenen Methode hervorzuheben, denn Bücher mit Vorschlägen zu einem systematischen, anschaulichen und weniger mechanischen Schreibunterricht finden sich schon ab der ersten Jahrhunderthälfte. Doch das Beharrungsvermögen der Lehrer war wohl groß: was man 1830 im Seminar gelernt hatte, wurde in den nächsten 40 Jahren in der Schule praktiziert.
Mit der Verbesserung der materiellen Bedingungen, beispielsweise den staatlichen Vorgaben für die Klassenraumgestaltung was Mobiliar und Lichtverhältnisse betrifft, der besseren Ausstattung der Schüler mit Schreibmaterial, der Zunahme an Berufen, die eine ordentliche Handschrift erforderten und die stärkere Persönlichkeits- und Qualifikationseinschätzung auf der Grundlage der Handschrift bei Bewerbungsschreiben und Lebenslauf gewann der Schreibunterricht einen immer höheren Stellenwert und eine bessere Qualität.
Das zu leistende Pensum wurde immer höher, denn Gegenstand des Schreibunterrichts war nicht nur die deutsche Currentschrift, sonder auch die englische Kursivschrift, eine in England gebräuchliche Variante der lateinischen Schreibschrift. Diese wurde erst ab der 4. oder 5. Klasse erlernt und war bestimmten Textsorten vorbehalten, wie Fremdwörtern oder ausländischen Städtenamen. Am Gymnasium kam sie häufig zum Einsatz: Wenn ein deutscher Text in eine Fremdsprache übersetzt wurde oder im Vokabelheft erscheinen die deutschen Wörter in deutscher Currentschrift, die fremdsprachlichen in englischer Kursivschrift.
Das zu leistende Pensum war auch deshalb sehr hoch, weil im 19. Jahrhundert der Handschrift ein immer größerer Persönlichkeitsbezug zugewiesen wurde. Früher konnten nur wenige schreiben; die vielen Analphabeten gingen zum Schreibmeister, wenn sie ein Schriftstück anzufertigen hatten. Wenn jedoch alle schreiben und Schriftliches von sich geben, wird das Geschriebene zum Ausweis von Merkmalen der Person. Man findet folgende Maximen in der Literatur der Zeit:
"Eine schlechte Handschrift sollte man niemals verzeihen; sie verräth eine schimpfliche Trägheit." [6]
"Wir sind es unserem eigenen und dem Schönheitsgefühl Anderer schuldig, eine…gefällige Hand zu schreiben." [7]
"Ausgezeichnete Leichtigkeit und Gewandtheit im Schreiben ist ein Beweis von Gewandtheit überhaupt, wäre es auch nur im Mechanischen." [8]
"Menschen, die in ihren reifen Jahren wie Kinder schreiben, sind auch noch und bleiben ihr ganzes Leben lang Kinder." [9]
Wenn wir heute angesichts handschriftlicher Hinterlassenschaft aus dem 19. Jahrhundert in Staunen geraten, hat das etwas zu tun mit der in den Zitaten zum Ausdruck gebrachten Einstellung zum Schreiben, und der Schreibunterricht war der Motor zur Umsetzung dieser Vorstellungen. Man gab ihm einen hohen Stundenanteil, selbst an den weiterführenden Mittelschulen; auch an den höheren Mädchenschulen in Preußen gab es in der 4. und 5. Klasse wöchentlich zwei Schönschreibstunden.
Die Forcierung des Schreibunterrichts hat noch einen anderen Hintergrund. In der ständischen Gesellschaft vor der französischen Revolution hatte sich in der Oberschicht ein System des Schriftverkehrs herausgebildet, das dem Rang einer Person Rechnung zu tragen versuchte. Titelbücher gaben Briefstellern, Schreibmeistern und Kanzlisten Orientierungshilfe im hoch differenzierten Angebot an standesgemäßen Anreden und Eingangsformeln. Und das Schriftbild sollte dem entsprechen; Schreiber wetteiferten im Dekor mit Gittern, Girlanden und Voluten, die Ästhetik der Schriftstücke soll der Würde des Adressaten gerecht werden. Die aufblühende bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts adaptierte dies, allerdings durch den Klassizismus entschnörkelt und geglättet. Titelbücher gibt es immer noch, und in Lehrerhandbüchern finden sich noch um 1900 eigene Kapitel über die Form des amtlichen Schriftverkehrs mit der korrekten Anrede für die gesamte Hierarchie der Vorgesetzten vom Schulleiter bis zum Kultusminister. Nicht mehr nur weltliche und geistliche Würdenträger haben Anspruch auf blumige Sprachformeln und gestochene Schriftzüge. Möglichst viele sollten teilhaben an einer elaborierten Form schriftlicher Kommunikation. Dazu hatte die Schule ihren Beitrag zu leisten.
[1] Nikolaus Fox, Aus dem Leben des Nikolaus Driesch, Saarlouis 1933, S. 33
[2] Der baierische Schulfreund. Eine Zeitschrift. 4. Bd. Erlangen 1812, S. 82
[3] Friedrich Paulsen, Aus meinem Leben, Leipzig o.J., S. 82
[4] Friedrich Polack,, Brosamen. Erinnerungen. 1. Band, Wittenberg 1885, S. 89
[5] Hermann R. Dietlein, Wegweiser für den Schreibunterricht, 2. Aufl. Leipzig 1876, S. 3
[6] Dietlein, S. 38
[7] Johann Christian Dolz, Hülfsbuch zur Schön- und Rechtschreibung und zum schriftlichen Gedankenvortrage, Leipzig 1806, S. 38
[8] Carl Kehr, Geschichte der Methodik des deutschen Volksschulunterrichts. 4. Bd Gotha 1889, S.147
[9] wie 8